Besucher seit 13.05.2003:

WEBCounter by GOWEB

Frankfurter Geschichten 2

Was waren das noch für Zeiten, als ich im morgenländischen Offenbach wohnte und mein Arbeitsweg nur etwa 30 Minuten dauerte! Vorbei, vorbei. Nunmehr residiere ich im trauten Limburg an der Lahn, umgeben von Dom, A3, und Langer Meile. Hier, mitten zwischen Taunus und Westerwald, ist die Welt noch in Ordnung. Doch leider ist auch der Weg zum Arbeitsplatz verlängert, und so geht bereits morgens um 6 Uhr der Wecker, um mich daran zu erinnern, dass es höchste Zeit wird, aus den Federn und ab nach Frankfurt zu kommen.

Eine halbe Stunde später verlasse ich das Haus und begebe mich zum "Veilchen", dem kleinen, uralten Corsa, der mich mit seinen sagenhaften 45 PS zum ICE-Bahnhof bringen soll. Freudig springt der Motor an, und wir schleichen – es ist immer noch finster – durch das Wohngebiet. Schon kurz darauf habe ich einen BMW hinter mir, dessen Fahrer offenbar die Tempo-30-Schilder übersehen hat. Er rückt bis auf "ein Zehntel Tachoabstand" heran, dann beginnt er hin und her zu pendeln. Selbstverständlich halte ich spätestens jetzt die Geschwindigkeit noch genauer ein. Eigentlich rechne ich schon lange damit, überholt zu werden, aber seltsamerweise bleibt er hinter mir. Erst am Ende, als ich mich zum Linksabbiegen ausordne, braust er rechts an mir vorbei und ist, während ich den Verkehr auf der Hauptstraße beobachte, schon Richtung Elz entschwunden.

Wenige Minuten später befinde ich mich an der Autobahnauffahrt Limburg-Nord innerhalb eines nicht enden wollenden Lindwurms von Autos, die allesamt ebenfalls auf die Autobahn wollen. Das problematische dabei ist, dass der Beschleunigungsstreifen verdammt kurz ist und an seinem Ende keine Auslaufzone, sondern nur eine Leitplanke existiert, nach deren Durchbrechen es etwa 100 Meter abwärts geradewegs in die Lahn geht. So versucht man, schon in der Auffahrt eine geeignete Lücke im Strom des durchgehenden Verkehrs zu finden. Pech für die Autofahrer, die die Tankstelle verlassen. Man kann sie nicht reinlassen, weil man sonst selbst nicht mehr auf die Autobahn kommt. Mittlerweile beschleunige ich mit Vollgas und erreiche tatsächlich ohne Probleme die durchgehenden Fahrstreifen. Bis zur Abfahrt Limburg-Süd sind es weniger als 1000 Meter. Aber natürlich muss mir wieder ein Passatfahrer beweisen, dass er es schafft, mich auf diesem Stück zu überholen (und dann vor mir ebenfalls die Autobahn zu verlassen – Gratulation zu dieser bravourösen Leistung!).

Ein paar Ampeln weiter erreiche ich den ICE-Bahnhof, oder den "Railport", wie man hier schreibt ("Eisenbahnhafen"? Wer denkt sich diesen Schwachsinn eigentlich aus?). Um diese Zeit ist es noch problemlos möglich, einen Parkplatz zu finden, was einige aber nicht daran hindert, schon jetzt die Freiflächen zuzuparken, um 10 Meter weniger Fußweg zum Zug zu haben. Letztendlich lande ich jeden Morgen etwa auf dem gleichen Parkplatz, um noch ein paar Minuten im geheizten Auto zu sitzen und die ebenfalls ankommenden Mitreisenden zu studieren. Es sind jeden Tag die gleichen Personen. Manchmal ertappe ich mich dabei, wenn ich mir vorstelle, was sie wohl für Menschen sind, wo sie arbeiten, wo sie wohnen. Einigen habe ich in Gedanken Namen verpasst, andere sind beispielsweise "Der Mann, der aussieht wie mein Arbeitskollege". Nach und nach verlassen sie ihre Autos und begeben sich zum Bahnsteig. Auch ich schließe mich ihnen an und suche mir wie immer meinen Warteplatz knapp neben der Bahnhofsuhr.

Auch die Stimmen der "Lautsprecherdamen" kenne ich. Heute hat meine Lieblingssprecherin Dienst. Bei ihr wird jede positive, negative oder auch belanglose Nachricht als Sensation verkündet. "Meine Damen und Herren, auf Gleis 1 bitte beachten Sie: ICE811 aus (Tadaaa!) KÖLN nach Frankfurt hat heute zehn Minuten (Tadaaa!) VERSPÄTUNG. Außerdem verkehrt dieser Zug heute (die Spannung steigt – tadaaa!) nur mit (tadaaa!) EINEM ZUGTEIL! Wir bitten, dies zu (tadaa!) ENTSCHULDIGEN! Die Wagen der ersten Klasse halten heute im (tadaaa!) ABSCHNITT E." Mal abgesehen davon, dass es für uns Reisende hier nichts "zu entschuldigen" gibt, sondern dass höchstens die Bahn "um Entschuldigung" bitten kann (die wir Reisenden wiederum gern annehmen können), kann einem die Ansage glatt die Laune verderben. Sind die 10 Minuten Verspätung für mich, der nicht mehr umsteigen muss, noch verkraftbar, so besteht unser Zug nicht umsonst normalerweise aus zwei Zugteilen, in denen so gut wie alle Sitzplätze belegt sind. Als leidgeprüfter Pendler habe ich Anfang August 2008 angefangen, eine "persönliche Bahnstatistik" zu führen. Heute (Anfang März 2009) kann ich somit feststellen: Nur 69,4 Prozent meiner Züge waren pünktlich. Ohne Beanstandungen (das bedeutet bei mir: Zug verkehrt pünktlich, in geplanter Wagenlänge sowie mit korrekt angesagter/angezeigter Wagenreihung) waren lediglich 45,2 Prozent! Die Verspätungsminuten summieren sich in diesem guten halben Jahr auf 880! Wenn man sich auf der Zunge zergehen lässt, dass ich damit durchschnittlich pro Woche fast 30 Minuten Verspätung habe und MEHR ALS JEDER ZWEITE ZUG Anlass zu Beanstandungen gibt, dann weiß man auch, warum die Bahn seit einigen Jahren ihre eigenen Statistiken unter Verschluss hält. Es wäre ja noch schöner, wenn das Volk wüsste, wie schlecht mit seinem Eigentum umgegangen wird!

Je länger man auf einen verspäteten Zug wartet, umso gereizter wird die Stimmung unter den Reisenden. Zunächst muss man gar nichts hören, man kann es förmlich spüren! Aber schon nach einigen Minuten hört man ein leises, allgemeines Gebrabbel. Spätestens nach 15 Minuten schnappt man aus diesem das Wort "Bundesbahn" auf und fragt sich, warum hier über ein Unternehmen geschimpft wird, das es seit mehr als zehn Jahren nicht mehr gibt.

Ich habe mich inzwischen in die Mitte des Bahnsteiges begeben, und tatsächlich rollt der ICE bald in den Bahnhof. Natürlich ist der Zug genau entgegen der Ansage gereiht, so dass die Erste-Klasse-Passagiere den ganzen Zug entlangrennen dürfen, um ihren Wagen zu finden. Ich stelle mich brav an, und nach einigem Warten darf ich den Zug betreten. Die Suche nach einem Sitzplatz kann ich mir sparen, daher bleibe ich im zugigen Gang stehen – das kenne ich mittlerweile. Immer noch besser als die Mitfahrt auf einer Trittstufe, nur durch die dünne Tür getrennt von der mit 300 km/h vorbeirasenden Landschaft – auch das gab es schon.

Fährt der Zug mit normaler Länge, finde ich eigentlich immer einen Sitzplatz. Ich döse dann vor mich hin, und während der Zug wunderbar leise und gut gefedert durch den Taunus brettert, hänge ich meinen Gedanken nach, wie ich so mit einem pfeilschnellen Flitzer in die Bank- und Börsenmetropole gefahren werde, die es offenbar gar nicht erwarten kann, mich zu begrüßen.

Tatsächlich bin ich am Hauptbahnhof dann aber nur einer der vielen Menschen, die einer der vielen Pendlerzüge Morgen für Morgen ausspuckt, auf dass sie den Ruhm und die Geldbörse ihrer Arbeitgeber mehren mögen. So muss ich auf dem Weg zum Bahnhofsvorplatz gefühlte 28 Mal die Richtung wechseln, um nicht mit anderen Ameisen, äh, Menschen zusammenzustoßen. Links von mir sehe ich Starbucks, wie immer von einer langen Schlange, größtenteils Möchtegern-Alpha-Weibchen, belagert, um mit wohlklingenden Namen versehenen stinknormalen Kaffee zu völlig überhöhten Preisen zu kaufen und sich dabei elitär zu fühlen. Ja, ich gebe zu, ich bin neidisch, dass ich nicht auf diese Geschäftsidee gekommen bin.

Um vom Bahnhofsvorplatz weiter in das Herz von Mainhattan vorzudringen, muss man eine mit mehreren Fahrspuren versehene, zum Glück durch Ampeln gesicherte, breite Straße überqueren. Das Teuflische ist, dass zwischen den Straßenspuren auch die Straßenbahn verkehrt, die im Gegenteil zu den Autos nicht durch Ampeln zurückgehalten wird, während die Fußgänger "Grün" haben und auch gegenüber ein freundliches grünes Licht sehen. Schon seit ich diese Stelle kenne (und das sind mittlerweile einige Jahre), frage ich mich, ob ich den Architekten dieser Verkehrslösung wegen Totschlags verklagen sollte, denn immer wieder kommt es vor, dass Fußgänger unbewusst direkt in die gerade beschleunigende Straßenbahn rennen. Meinen Hinweis, dass so etwas schon die selige DDR besser lösen konnte, indem sie Ampeln für Straßenbahnen aufstellte, spare ich mir an dieser Stelle.

Aber inzwischen trabe ich schon durch die um diese Zeit sehr triste Kaiserstraße, bleibe, weil ich einen guten Tag erwischt habe, an der Ampel bei Rot als Einziger stehen (an schlechten Tagen renne ich genau wie alle anderen einfach weiter), laufe an den Schaufenstern mit nicht jugendfreien Auslagen, vor denen nachmittags kleine Kinder spielen, vorbei und erreiche nach einigen weiteren Straßen das wohlig-warme Bürogebäude, in dem ich die nächsten Stunden verbringen werde...

E-Mail für mich

Startseite
Literaturseite
Seitenanfang

01.03.2009