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Frankfurter Geschichten

Der Erfinder des Handywecktons muß ein Sadist gewesen sein. Erst ganz leise und angenehm, aber dann durch unerbittlich immer lauter werdendes Piepsen, das sich zu einem ohrenbetäubenden Krawall entwickelt, wenn man nichts dagegen unternimmt, werd ich daran erinnert, daß ich wiedermal viel zu spät schlafen gegangen bin und es meinen Arbeitgeber schon wieder danach gelüstet, die Gegenleistung für das kärgliche Monatsgehalt in Anspruch zu nehmen. Um mich vor der Lynchjustiz eventuell lärmgeplagter Mit-Hausbewohner als auch meine Ohren vor einem Gehörsturz zu schützen, quäle ich mich in die Richtung des immer noch lärmenden Störenfriedes (wieso ist dieses Bett eigentlich so breit, daß ich nicht einfach mit der Hand hinlangen kann?), und nach einem gezielten Tastendruck umgibt mich wieder die morgendliche Stille. Naja, richtig still ist es nicht, denn als ich ein paar Sekunden durch das Dachfenster in den wolkenverhangenen Himmel schaue, hör ich die leisen Regentropfen, die in unregelmäßigen Abständen auf das Dach und das Fenster klatschen. Also wieder typisches Frankfurter Wetter.

Obwohl ich versucht bin, die Augen einfach wieder zu schließen, steh ich mit einem Seufzer auf und tappe schlaftrunken durch die natürlich ziemlich kalte Wohnung. Das kalte Wasser auf meinem Gesicht läßt mich zusammenzucken, doch wenigstens vertreibt es einen Teil der immer noch großen Müdigkeit, so daß meine Lebensgeister dazu befähigt werden, die Kaffeemaschine zu füllen und anzuwerfen. Während das edle Getränk langsam in die Kanne tröpfelt, finde ich die Zeit, beim Anziehen einen kurzen Blick aus dem Fenster zu werfen und zwischen den tief hängenden Wolken wieder eins der viel zu tief durch die Einflugschneise über meine Dachwohnung donnernden Flugzeuge im Anflug auf Frankfurt zu erkennen.

Endlich kann ich den Kaffee in mich hineinschlürfen, und dieser tägliche Lebensretter vertreibt den Rest der Müdigkeit, so daß ich am Ende meines morgendlichen Aufstehrituals fast als junger, dynamischer, erfolgreicher Unternehmer durchgehen könnte. Das heißt, ich verschwinde in der Masse des auf dem Weg zur Arbeit befindlichen, beschlipsten und Sakko-tragenden Plebs, sobald ich die Haustür hinter mir geschlossen habe und mich in Richtung S-Bahn-Station bewege.

Die Zebrastreifen, die ich auf dem Weg dahin überquere, muß ich flüchtend verlassen. Mein eigentlicher Vorsatz, auf meinem Recht zum Überqueren der Straße zu bestehen, hätte mich mindestens eine Woche Krankenhausaufenthalt gekostet. Aber das bin ich gewohnt, daß die Straßenverkehrsordnung hier in Hessen andere Paragraphen hat. Wenigstens verfehlt der nette Autofahrer die Pfütze, die er, auf mich zielend, ansteuerte.

Die Fußgängerzone, auf der mir zu nachmittäglicher Stunde ständig Menschen vor den Füßen rumspringen, um mich in meinem schnellen Gang aufzuhalten, ist um diese frühe Zeit angenehm leer. Mit wissendem Blick schau ich die wenigen Leute an, die mir entgegenkommen - sie sind genauso begeistert wie ich, an so einem trüben Tag zu nachtschlafener Zeit Richtung Arbeit zu rennen.

Ich verschwinde im Untergrund der S-Bahn-Station, in der mich nach dem zugigen Eingang wohlige Wärme empfängt. Den Typen, den das Rauchverbotsschild offenbar nicht zu interessieren scheint, ignoriere ich, denn er sieht nicht so aus, als würde er meine freundlichen Hinweise verstehen, geschweige denn verstehen wollen. Das Kunstlicht hier unten ist ein seltsamer Kontrast zu dem trüben Himmel an der Oberfläche. Alles erscheint so unwirklich, so fremd. Ein ganz leises Grundgeräusch sich unterhaltender Menschen liegt in der Luft. Doch wird es bald von dem fernen Rumpeln der einfahrenden S-Bahn übertönt. Mit zweifelndem Blick schau ich zu den vorbeihuschenden Wagen. Alles ist wie immer. An den vier Einstiegstüren drängen sich wahre Menschentrauben, während dazwischen noch Luft zu sein scheint - von den Sitzplätzen natürlich abgesehen. Auch wenn volle S-Bahnen ärgerlich sind, muß ich jedesmal schmunzeln, wie wir uns diesen durch die Inneneinrichtung auferlegten Zwängen beugen und wie die Individuen sich in einem alltäglichen Anfall von Selbstaufgabe in das Unvermeidliche fügen und sich dem Willen der Technik unterwerfen.

Ich hab keine Lust, mich diesem Massentransport anzuschließen und in engen Körperkontakt mit nach billigem Parfüm riechenden Mittvierzigern zu treten, deshalb stell ich mich abseits, beobachte das Drängeln beim Ein- und Aussteigen, bis sich die Türen schließen und die Bahn abfährt, dabei einen fast menschenleeren Bahnsteig hinterlassend. Zufrieden beweg ich mich auf meinen Stammplatz, setze mich hin und krame mein Buch hervor.
Komisch, daß ich durch einen Tip aus Amerika auf den deutschen Schriftsteller Christian Kracht gekommen bin. Und komisch auch, daß ich jedes seiner Bücher nach den ersten Seiten am liebsten wegschmeißen möchte, es mir jedoch, je länger ich lese, immer sympathischer wird.

Pünktlich wie jeden Tag erscheinen die 2 Mädels, wie jeden Tag stellen sie sich an ihren Platz - nur einmal waren sie eher als ich und saßen auf "meinem" Sitz. Die eine find ich richtig hübsch, manchmal träum ich davon, wie es wäre, mit ihr befreundet zu sein. Sie scheint immer gute Laune zu haben, ich hab sie noch nie mit griesgrämigem Gesicht gesehen. Jeden Tag steigen sie einen Wagen vor mir ein, und damit verlieren sich ihre Spuren. Ich weiß nicht, wohin sie fahren, weiß nicht, was sie machen, weiß nur, daß sie jeden Tag genau wie ich in den gleichen Zug einsteigen. Ist irgendwie ein schöner Traum, und ich werd nichts tun - aus Angst, ihn zu zerstören.

Jetzt laufen zwei in Designermäntel gehüllte, mit Designerbrillen ausgestattete, toll gestylte Manager an mir vorbei. Sie stinken förmlich nach Geld, ich mag sie nicht, weiß nicht, warum. Vielleicht bin ich nur neidisch, weil sie draußen in der kalten Luft nicht frieren, während mein Mantel immer noch darauf wartet, endlich in die Reinigung gebracht zu werden. Sie unterhalten sich, lachen über irgendetwas, lauter als sie es müßten. Jeder soll hören, wie wichtig und witzig sie sind. Ich schnappe ein paar Wortfetzen in dieser schrecklichen Mundart, dem "Hessischen" - dabei das "s" aber wie in "Saumagen" aussprechend - auf. Damit werd ich mich nie anfreunden können. Möglicherweise liegt das am ekligen Ebbelwoi, der die Stimmbänder angreift. So kann ich mich damit trösten, daß ich nicht gefährdet bin, in diesen platten Kauderwelsch zu verfallen.

Die jetzt folgende Bahn wird nur eine Station vorher eingesetzt, deshalb ist sie nicht so überfüllt wie die anderen. So find ich normalerweise immer einen Sitzplatz, auch heute.
Der Typ, der mir gegenüber sitzt, hält eine russischsprachige Zeitung in der Hand. Ich kram die Reste meines Schulwissens hervor und versuche, die Überschrift zu entziffern. Lesen kann ich es noch, aber an der Übersetzung scheitere ich.
Ich laß meine Augen zur nächsten Zeitung wandern, um dort etwas über die weltpolitische Lage herauszubekommen. In großen Lettern les ich, daß Ulla Kock am Brink es doch nur gut gemeint hat, als sie der Christiansen... - ich will das weder lesen noch hören, so wandern meine Augen weiter, immer noch auf der Suche nach dem politischen WeltBILD. Wieder bleiben sie hängen, diesmal bei dem leichtbekleideten Mädchen auf der Titelseite. Auch wenn die schlechte Druckqualität der Zeitung die interessantesten Partien nur unscharf erkennen läßt, entlockt sie mir doch ein Lächeln an diesem trüben Morgen.

Langsam merke ich, daß es zwecklos ist, in dieser S-Bahn nach der Weltpolitik Ausschau zu halten, und so schweift mein Blick weiter im Wagen umher. Menschen, die so tun, als ob sie schlafen. Jede Menge business-men and -women. Zwischenrein ein paar Schulkinder, die jedoch an der nächsten Station aussteigen.

Fast pünktlich rumpelt die Bahn ins Zentrum von Mainhattan. Als ich aussteige, muß ich mich wie so oft durch Menschenmassen zwängen, die das Talent haben, sich mir genau in den Weg zu stellen. Wenn ich mal abends Bahn fahre, ist es meist noch schlimmer. Da kommt es schon vor, daß ich beim Aussteigen resigniert die Arme hebe, denn ich find keinen Weg. Alle stehen im Halbkreis um mich herum und warten darauf, daß ich endlich die Tür freigebe. Aber bisher hatte auch da nach ein paar sich zu Stunden dehnenden Sekunden immer jemand ein Einsehen und ließ mir die Möglichkeit, durch eine enge Lücke in der Menschentraube hindurchzuschlüpfen.

Inzwischen kämpfe ich mich zur Rolltreppe vor, an der ich natürlich anstehen muß, denn zeitgleich mit meiner Bahn hielt auch am anderen Gleis ein Zug, der weitere beschlipste Arbeitnehmer ausspuckte. Die zweite Treppe ist wegen Wartungsarbeiten außer Betrieb - was in immer öfter wiederkehrenden Intervallen der Fall ist. Das heißt natürlich nicht, daß die Treppe gewartet wird. Das heißt nur, sie steht still und ist gesperrt. Aber irgendwann nach einer Woche wird sie sicher wieder funktionieren, ohne gewartet worden zu sein.
Zwar versuch ich, mich an das Motto "rechts stehen, links gehen" zu halten, aber das ist bei den Menschenmassen zwecklos. Natürlich will trotzdem einer an mir vorbei. Er schiebt und drängelt, irgendwie schafft er es, daß er vor mich kommt und damit eine halbe Sekunde eher das Rolltreppenende erreicht.

Noch immer im Untergrund, lauf ich zur nächsten Rolltreppe, die mich wieder an die Oberfläche bringt. Auch hier Gedränge, wenn auch etwas weniger. Die Frau vor mir, doppelt so dick und doppelt so schwer wie ich, muß mitten auf der Treppe und ohne Rücksicht auf Verluste ihren Regenschirm aufspannen, der mich dabei fast ins Auge trifft. Aber wie durch ein Wunder kann ich ihrer Waffe ausweichen, und schon stehe ich unter dem noch trüber gewordenen Himmel, nunmehr in strömendem Regen.

Die Straße, die ich jetzt entlangschlendere, ist seit Monaten eine Baustelle. Jeden Tag führt ein neuer Weg durch das Labyrinth, manchmal muß ich mich vor rückwärts rasenden... äh, fahrenden Baggern in Sicherheit bringen. Es ist immer wieder spannend, ob ich am Ende der Labyrinthdurchquerung an der normalen oder an der Rolltreppe herauskomme. Denn am frühen Morgen bin ich faul und bequem, da würd ich schon gern die Rolltreppe benutzen. Aber wie gesagt, das kann jeden Morgen anders sein, und wenn ich schon die Rolltreppe erwische, dann ist sie meist außer Betrieb.

Doch auch das haut mich nicht mehr um, denn nun muß ich mich nur noch durch eine U-Bahn-Station kämpfen, bevor ich meinen Arbeitsplatz erreiche. Okay, der Weg über die Straße wäre kürzer, aber ich hab keine Lust, mich schon wieder mit Autofahrern rumzuärgern, die meinen, beim Rechtsabbiegen auf Fußgänger keine Rücksicht nehmen zu müssen. Als ich dann im Büro ankomme, stell ich fest, daß die Klimaanlage wiedermal fünf Grad zu kalt eingestellt ist. Also laß ich das Jackett an...

Dezember 2001 by "Das Söhnchen"

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